Ahnenerbe
Breit und grau schlägt die Woge der Nordsee an den flachen Strand. Breit und grau wälzt der Rhein seine Flut dem Meer entgegen. In gleichmäßiger Wiederkehr dröhnt der Aufschlag der Wasser gegen die Küste: Ewigkeit, Ewigkeit. Der Strom aber, wie aus innerem Müssen gedrängt, schiebt sich am Tag der Menschen vorüber, bis er sich in diese Ewigkeit ergießt. So vielgestalt ist dieser Menschen Tag an seinem Ufer. Schön und friedlich die Triften mit dem weidenenden Vieh, verträumt an den schilfumwachsenen Seen, in denen das Wassergeflügel gurrt und raschelt; voll heimlicher Geborgenheit in den Kampen hinter den Wallhecken und den Eichenwäldchen; unirdisch feierlich, wenn der Glanz des Abends über der endlosen Ebeneleuchtet und die Weizenfelder im späten Winde wallen wie ein riesiger Ozean.
Nirgends wird der bewundernde Blick aufgehalten. er schweift in verblauende Fernen. Er schaut den gereihten Pappeln nach und den segelnden Wolken. Er folgt dem Flug der Vögel und nimmt sich aus der feierlichen Weite zurück, um sich an einer lieblichen Nähe festzusaugen: einer kleinen Wiesenblume, der Efeuranke am Stamm einer alten Linde, dem Plätscherbrunnen vor einem freundlichen Bauernhaus.
Aber auch schaurig kann die Landschaft sein am Niederrhein. Dann heulen die Stürme zur Zeit der Eisschmelze. Dann brechen die gestauten Wasser über die Dämme. Dann beginnt das Land zu klagen und steht machtlos vor der Wut der Naturkraft. Die wühlenden Wogen treffen das nährende Land. Schwarze unheimliche Kolke1 zeigen auch dem Enkel noch, wo das Unheil der Menschen Glück und Gut zerstörte.
Dieses Land erzieht sich Menschen mit hartem Willen und zäher Geduld. Menschen, die ihre Kräfte einzuspannen wissen gegen die dunkle Not, gegen feindliche Übergriffe in den eigenen Besitz. Sie sind im Kampf erprobt, die Menschen dieser Erde. Nicht nur im Kampf gegen die Naturmächte: Kampf, Abwehr, Eroberung in heißem Ringen steht auf den Blättern ihrer Geschichte. Kampf im äußeren Machtbereich, schwerer Kampf zwischen dämonischer Finsternis und lichter Klarheit, zwischen Bosheit und besserer Einsicht im Reich der Seele.
Gerade in diesen trutzigen Männern und starken Frauen des niederdeutschen Bodens mochten die sanften Lehren des Christentums auf harten Widerstand stoßen. Darum erlebt dieses, indem es am Niederrhein an Boden gewann, zugleich die fürchterlichsten Offenbarungen des Hasses der Unterwelt. Um die Wende des 1. Jahrtausends rührt hier die helle christliche Gesittung messerscharf an die Abgründe teuflischer Gelüste und Taten. Fromme Frauen atmen gleiche Luft mit solchen, denen Grausamkeit und Herrschbegier jedes frauliche Empfinden ertötet hat.
Die Rechtlichkeit des christlich deutschen Edelmannes wird durchkreuzt von der Maintat und der Falschheit des Gewaltsamen, der durch Unrecht und Blut zu seinem Ziele gelangt. Für jede Ruchlosigkeit hatte man ja das noch frische Beispiel am Feind, der vom Norden kam und jahrhundertelang die Geißel des Landes blieb. Verbrannte nicht Utrecht lichterloh zu einem Aschenhaufen, als die Nordmänner dort wüteten? Leuchtete nicht der Dom zu Xanten wie eine Riesenfackel durch die Nacht? Die Menschen liefen um ihr Leben zu den ummauerten Höfen auf den Moränenwällen. Sie duckten sich, wie verscheuchte Vögel sich ducken, wenn der Geier kommt. Sie blieben im Schutz des Landadels, der nun seinerseits in Gefühl vermehrter Macht Dienste forderte und Gefolgschaft von denen, die sie in ihre festen Plätze hineingenommen hatten. Es kam zum Kampf zwischen Edelling und Edelling. Als nach fünfzehnmaligem Einbruch die Normannen den Rhein verließen, um anderswo neuen Eroberungen nachzugehen, wurden die Machtansprüche von Burg zu Burg ausgetragen im geheimen und offenen Zwist. Das Land am Niederrhein ist der Boden, dem die heilige Irmgard von Aspel entsproß. Feindeinbrüche und Bruderfehden bilden den lärmvollen Hintergrund vor dem dieses Frauenleben steht. Nein, nicht den Hintergrund. Irmgard wird hineingezogen in den Strudel schicksalshafter Verwirrungen ohne daran selbst verwirrt zu werden; in diese Frevel und dunklen Irrungen, ohne selbst in die Irre zu gehen; sie ist wie ein helles, reines Licht, was dort leuchtet, wo es von der Vorsehung hingestellt wird, das wärmt und die Umgebung glücklich und besser macht, ohne viel Worte, einzig durch die Kraft ihres Wesens und die Taten ihrer Liebe.